Sozialpsychatrie
Psychologen deuten aus Handschrift psychische Erkrankungen
Von den ddp-Korrespondenten Doris Marszk und Marcel Falk
Stuttgart (ddp). Als völligen Humbug und Kaffeeleserei pflegen Wissenschaftler die Graphologie zu beschimpfen. Sie verweisen dabei auf über 200 Studien, dass aus dem Schriftbild in keinster Weise die Persönlichkeit abgeleitet werden könne. Jetzt aber könnte sich die Lehre vom Handschriftendeuten auf einem neuen Gebiet wissenschaftliche Lorbeeren verdienen: in der Diagnose von psychischen Erkrankungen. In einem Forschungsprojekt an der Psychiatrischen Klinik der Universität München versuchen der Psychologe Roland Mergl und seine Kollegen aus der Handschrift den Stand psychischer Erkrankungen bei Depressiven oder Schizophrenen zu bestimmen. In den Tests müssen Patienten auf einem elektronischen Schreibtablett, das an einen Computer angeschlossen ist, verschiedene Zeichen- und Schreibaufgaben bewältigen. Die Schreibbewegungen werden dann mit einer speziellen Software analysiert.
Dieses Verfahren sei sehr sensitiv, sagte Mergl dem Stuttgarter Nachrichtendienst Wissen- schaft.de. Es registriere auch Bewegungsstörungen, die einem Menschen normalerweise nicht auffallen. Mit den Tests könnten etwa psychotische Schübe bei Depressiven erkannt werden. Die Forscher fanden heraus, dass Patienten in depressiven Phasen motorisch gehemmt sind und deshalb langsamer schreiben. In den fröhlicheren Lebensabschnitten dagegen führen Depressive den Stift so flink wie andere Menschen auch. Bei Schizophrenen aber sei das anders, erläutert Mergl. Ihr Schreiben ist durch auffallend repetitive Handbewegungen ständig von der Krankheit gezeichnet.
Auch Zwangsstörungen könnten sich über Schreibtests diagnostizieren lassen. Das Forscherteam um Paraskevi Mavrogiorgou, ebenfalls von der Universität München, fand bei Patienten mit Zwangsstörungen typische Handschriftenmuster. Diese schreiben demnach langsam, auffallend klein und mit gleichmäßigen Bewegungen. Die Merkmale eigneten sich sehr gut für eine Diagnose der Krankheit, sagen die Forscher. Das Schreiben sei für Patienten mit Zwangsstörungen gar typischer als die Symptome, die zurzeit für eine Diagnose verwendet würden. All diese Arbeiten seien aber keine Persönlichkeitsforschung, unterstreichen die Psychologen. Deuter von Charaktereigenschaften aus der Handschrift gelten in der Wissenschaft nämlich als Scharlatane. Argumente für diese Behauptung fanden Forscher in neuen Studien sogar im Gehirn.
Die Wissenschaftler um Michel Rijntjes am Universitätskrankenhaus Eppendorf in Hamburg etwa entdeckten im Denkorgan die Region des Schreibens, den so genannten posterioren parietalen Kortex. Diese Hirnregion ganz oben am Kopf steuert die Bewegungen beim Schreiben, egal ob man den Stift mit der Hand oder den Zehen führt. Aus dieser zentralen Steuerung der Schrift ist verständlich, warum jeder Mensch ein typisches, kaum veränderliches Schriftbild hat.
Das heißt aber noch lange nicht, dass sich aus der Schrift allgemeine Charaktereigenschaften ableiten lassen. Ganz im Gegenteil: Der posteriore parietale Kortex sei nämlich nur sehr locker mit den persönlichkeitsbildenden Regionen im Gehirn verbunden, sagen die Wissenschaftler. Im Schriftbild seien deshalb auch keine Charakterzüge versteckt. Damit bestätigen die Forschungen in Hamburg mehrere vorhergehende Studien, die gezeigt hatten, dass die in graphologischen Gutachten erörterten Eigenschaften kaum mit dem tatsächlichen Charakter der getesteten Person übereinstimmen. Dennoch ist die Graphologie nach wie vor weit verbreitet: Nicht wenige Unternehmen bitten etwa Bewerber um einen handschriftlichen Text, den sie dann vom Graphologen analysieren lassen. Und auch Volkes Meinung ist es, dass an der Graphologie was dran ist. Die Gründe für den Glauben vermuten kanadische Psychologen nun zu kennen. In Experimenten mit willkürlich verteilten Schriftproben und Charakterdeutungen fanden sie heraus, dass Probanden die Begriffe wie "klein", "gerade", "schwungvoll", "ausladend" oder "fahrig", mit denen man Schriftmerkmale bezeichnet, direkt auf Personen übertragen. So standen aufstrebende Schlaufen für Optimismus. Eine unregelmäßige Handschrift dagegen brachten die Probanden mit Depressionen in Verbindung. Große Schriften nahmen sie für Ichbezogenheit und aus kleinen Zeichen leiteten sie Bescheidenheit ab.
--> Literaturtipps zur Graphologie
Teut Wallner: Lehrbuch der Schriftpsychologie. Grundlegung einer systematisierten Handschriftendiagnostik. Taschenbuch, 136 Seiten, R. Asanger, Heidelberg 1998, ISBN: 3893343466
Bernhard Fetz, Klaus Kastberger, Wilhelm Hemecker: Handschrift. Profile, Bd.4, Taschenbuch, 138 Seiten, Zsolnay, Wien 1999, ISBN: 3552049479
Jochen Meyer: Dichterhandschriften. Von Martin Luther bis Sarah Kirsch. Gebundene Ausgabe, 235 Seiten, Reclam, Ditzingen 1999, ISBN: 3150104521
Manfred R. Hecker: Forensische Handschriftenuntersuchung. Gebundene Ausgabe, 399 Seiten, Kriminalistik, Heidelberg 1993, ISBN: 3783207924
Berufsverband geprüfter Graphologen/Psychologen e.V. www.graphologie.de
Quelle: Lichtblick-newsletter.de vom 15.04.2002
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